Gedanken zum Sondierungspapier für eine neue Große Koalition

Als Bürger, der verkehrs- und umweltpolitisch engagiert ist, aber keiner Partei angehört, habe ich bislang nur selten die Notwendigkeit gesehen, Koalitionsvereinbarungen oder gar Vorstufen solcher Papiere zu lesen. Vielleicht war das ein Fehler, zu bequem. In das Sondierungspapier von SPD und CDU, über das so viel geschrieben wird, musste ich dann doch mal reinschauen. Es ist einfach zu wichtig, wir brauchen eine handlungsfähige Regierung, und ich halte wenig von einer weiteren Verzögerung durch Neuwahlen. Hier einige Gedanken  zum zwei Themen, die mir besonders am Herzen liegen: Verkehr und – das mag überraschen, Fraktionsdisziplin.

Verkehr

Ich vermisse eine der Bedeutung dieses Themas angemessene Gewichtung, es ist mit lediglich vier Textabsätzen, von denen der erste und dritte nur unkonkrete Leitlinien definieren, unterrepräsentiert. Drei Punkte möchte ich herausgreifen:

1. Der Radverkehr kommt im Sondierungspapier nicht vor, was ich für einen wesentlichen Mangel halte. Das früher vorgebrachte Argument, Radverkehr sei lokaler Verkehr und damit Angelegenheit der Kommunen, gilt heute nicht mehr. Der Bund und seine Behörden setzen mit der StVO, der VwV StVO sowie den technischen Regelwerken wie ERA (Empfehlungen für Radverkehrsanlagen) rechtliche und technische Standards, die den Handlungsrahmen für Länder und Kommunen vorgeben. Hier ist dringender Reformbedarf, erkennbar unter anderem daran, dass das Land Berlin sich, angestoßen durch die Initiative seiner Bürger, daran macht, ein eigenes Fahrradgesetz zu erlassen. In NRW wird im Rahmen der Kölner Radkomm ähnliches diskutiert. Solche anfangs außerparalamentarischen Initiativen brauchen eine modernisierte StVO nebst nachgeordneten Regelwerken und Erlassen, damit im parlamentarischen Prozess die Bedürfnisse der Bürger angemessen umgesetzt werden können. Der ehemalige NRW-Verkehrsminister Michael Groschek hatte die Verantwortung auf Landesebene erkannt und mit der Übertragung der Zuständigkeit für ein landesweites Radwege- und Radschnellwegenetzes analog den Landesstraßen an straßen.nrw sowie der Flexibilisierung der LBO für Kommunen (freiere Gestaltung von Stellplatzsatzungen) wichtige Voraussetzungen auf Landesebene geschaffen.

2. Das Bekenntnis zur Förderung von Elektromobilität war und bleibt ein politisches Versprechen ohne fachliches Fundament. Der Markt zeigt seit Jahren, dass erhebliche staatliche Subventionen keine ausreichenden Kaufanreize für elektrisch angetriebene KFZ schaffen können. Die Gründe sind nicht nur ökonomischer Natur (kein Netto-Nutzen für die Autofahrer), sondern sind auch technisch und systemisch bedingt: Im urban verdichteten Raum, wo KFZ mit elektrischem Antrieb für die Luftreinhaltung noch am sinnvollsten wären, kann keine flächendeckende und komfortabel nutzbare Ladeinfrastruktur aufgebaut werden, denn weder private noch öffenliche Stromnetze verfügen über die nötigen Leitungsquerschnitte und elektrischen Absicherungen, um die erwarteten Ladeleistungen für Elektromobilität in großem Stil liefern zu können. Abgesehen davon mangelt es besonders im privaten Raum an Platz zur Schaffung wohnungsnaher Ladestationen. Nach meiner Einschätzung ist die Abkehr vom Verbrennungsmotor nur mit einem disruptiven Systemwechsel möglich: Weniger, dafür intensiver genutzte KFZ im urbanen Raum, diese aber mit elektrischem Antrieb und Selbstfahrfähigkeiten zwecks unbeaufsichtiger Aufladung und Bereitstellung für individuelle Fahrten. Ich maße mir nicht an, die Rahmenbedingungen für einen solchen Systemwechsel definieren können, traue dies aber, bei allem Respekt, auch den parlamentarischen Repräsentanten nicht zu. Dafür ist die Materie fachlich schlicht zu komplex.

3. Ich halte es deshalb für dringend erforderlich, die Erarbeitung von Konzepten für eine modernisierte Mobilität („Verkehrswende“) unter Einschluss von Radverkehr, E-Car-Sharing und Multimodalität einem noch zu gründenen Politikberatungs-Institut zu übertragen, das unabhängige Experten beschäftigt, die Bürger anhört und der Bundesregierung zuarbeitet. Ich erinnere daran, dass der ehemalige SPD-Bundesverkehrsminister Kurt Bodewig von beinahe zwei Jahrzehnten auf einer ADFC-Jubiläumsfeier in Neuss die Gründung des Nationalen Radverkehrsplans und der Deutschen Fahrradakademie verkündet hat. Einem Bundesverkehrsminister Michael Groschek würde ich zutrauen, eine Initiative „Think Tank Verkehrswende“ für alle Mobilitätsträger und mit engerer Anbindung an die Bundesregierung auf Basis heutiger Erkenntnisse neu zu starten. Mit einem Alexander Dobrindt als Verkehrsminister ist aus meiner Sicht keine zukunftsfähige Regierungspolitik machbar.

Koalitionsdisziplin

Ich will mich kurz fassen. Im Sondierungspapier steht hierzu: „Im Bundestag und in allen von ihm beschickten Gremien stimmen die Koalitionsfraktionen einheitlich ab. Das gilt auch für Fragen, die nicht Gegenstand der vereinbarten Politik sind. Wechselnde Mehrheiten sind ausgeschlossen.“

Ich verstehe durchaus den Sinn von Fraktionsdisziplin, aber eine Regelung in dieser Rigidität bedeutet für mich Fraktionszwang und Missachtung von Art 38 GG, wo es heißt: „Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages sind … an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.“

Dass sowohl SPD als auch CDU mit der Gewissensfreiheit der Abgeordneten respektvoller umgehen können, zeigen die Koalitionsverträge von Rot-Grün in NRW 2012 und von Jamaika in Schleswig-Holstein 2017. In beiden steht sinngemäß ein Satz, der klarstellt, dass die Gewissensentscheidung der Abgeordneten davon unberührt bleibt. Auch der Sprachduktus zum Abstimmungsverhalten ist in diesen Koa-Verträgen deutlich weniger autoritär. Will die SPD der Bundeskanzlerin das Durchregieren allen Ernstes so leicht machen?

Immerhin ist in das Sondierungspapier eingebaut, dass man zur Halbzeit Bilanz ziehen und erforderlichenfalls neu verhandeln will – man kann es auch Sollbruchstelle nennen.:

„Zur Mitte der Legislaturperiode wird eine Bestandsaufnahme des Koalitionsvertrages erfolgen, inwieweit dessen Bestimmungen umgesetzt wurden oder aufgrund aktueller Entwicklungen neue Vorhaben vereinbart werden müssen.“

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